Kaltenkirchen um 1900: Das von Reichskanzler Bismarck verhängte „Sozialistengesetz“ mit dem Verbot der SPD war seit gut zehn Jahren aufgehoben. Ihre Mitglieder galten aber weiterhin als „vaterlandslose Gesellen“. Pastor Adolf Kuhlgatz, der die Pfarrstelle im Ziegeldachpastorat (dem heutigen Michaelishaus) von 1895 bis 1911 innehatte, zeigte sich dennoch beruhigt: „Die Sozialdemokratie machte sich wenig bemerkbar.“

Die Kirche und der stramm kaiserorientierte „Krieger- und Militärverein für Kaltenkirchen und Umgebung“ waren Pfeiler des Militarismus und bestimmten in der Gemeinde das Meinungsbild. Ein junges Mädchen aus Kaltenkirchen war in Hamburg in herrschaftlicher Stellung gewesen und dort verstorben. Zur Beerdigung – so der Geistliche empört – kam auch die „rote Partei“ in die Ortschaft. Ohne seine Erlaubnis hielt eine aus der Großstadt angereiste Sozialdemokratin während der Beisetzung eine Rede. Sie forderte das Ende der „Gesindeordnung“. Danach waren Landarbeiter und vor allem weibliche Hausbedienstete dem Willen ihrer Herrschaft ausgesetzt. Sie konnten sogar körperlich gezüchtigt werden. Erst die Novemberrevolution 1918/19 machte diesen unmenschlichen Bestimmungen ein Ende. Der Pastor war außer sich, als die Trauergemeinde einen Kranz mit einer roten Schleife niederlegte – das hatte es auf dem Friedhof bisher noch nicht gegeben. Kuhlgatz wies den Totengräber an, die sozialistische Banderole zu entfernen. Der Vater der Verstorbenen versuchte die Wogen zu glätten und erklärte, für den Kranz eine weiße Schleife bestellt zu haben. Der Pastor hielt dies für eine Notlüge, denn eine augenscheinliche Verbindung zur „Umsturzpartei“ galt im Dorf als anstößig.

Dr. Gerhard Braas